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Kachelmann-Prozess Die Gutachterschlacht

Brutale Vergewaltigung oder üble Lüge? Um diese Frage dreht sich der Prozess gegen Jörg Kachelmann. Eine wichtige Rolle spielen dabei eine Vielzahl von Gutachten - mit überraschenden Ergebnissen.
Von Malte Arnsperger

Zwölf Menschen stehen um den Tisch herum. Sie recken die Hälse, stellen sich auf die Zehenspitzen, drängeln sich dazwischen. Es geht zu wie bei der Signierstunde eines Popstars. Doch auf dem Richtertisch liegen keine Autogrammkarten, sondern Ermittlungsakten. Und die neugierigen Zuschauer sind keine Fans sondern ernst dreinschauende Staatsanwälte, Verteidiger und vor allem Gutachter. Die Szenerie am dritten Tag des Verfahrens vor dem Landgericht Mannheim zeigt, wie sich der Fall Kachelmann verändert hat: Aus der Medienschlacht ist eine Gutachterschlacht geworden.

Rund ein Dutzend Experten hat sich mit dem Fall beschäftigt, einige ihrer Gutachten sind dick wie Bücher. Dabei geht es im Kern nur um zwei Fragen: Sind die Verletzungen am Körper des mutmaßlichen Opfers Silvia May (Name von der Redaktion geändert) die Folgen einer Messerattacke und einer Vergewaltigung? Und wie glaubwürdig ist die Behauptung der ehemaligen Geliebten, sie sei von dem TV-Journalisten in ihrer Wohnung misshandelt worden? Zu diesen Fragen haben sich mittlerweile anerkannte Kapazitäten geäußert. Doch Deutschlands Wissenschaftler-Elite lässt ganz unterschiedliche Schlüsse zu, ja widerspricht sich gegenseitig. Die Folge: Verteidigung wie Staatsanwaltschaft picken sich die Argumente heraus, die ihre Position untermauern.

Streit über die Glaubwürdigkeit

Deutlich wurde dies anhand des Gutachtens von Luise Greuel. Die Bremer Psychologin sollte im Auftrag der Mannheimer Staatsanwaltschaft die Glaubwürdigkeit von Silvia Mays Bericht beurteilen. Einige Medien behaupteten, Greuels Expertise sei ein "Desaster" für die Ermittler. Sie lagen damit ganz auf der Linie der Verteidigung. Tatsächlich schrieb Greuel, die Aussage der 37-Jährigen genüge nicht einmal qualitativen Mindestanforderungen. Die Psychologin bemängelt vor allem Mays unklare Angaben zu der Tat. Aber Greuel sagt auch, dass solche Erinnerungslücken durch eine Traumatisierung ausgelöst werden könnten. Es sei nicht klar, ob May die Vergewaltigung wirklich erlebt oder sie nur erfunden hat. Beides ist also möglich.

Die Staatsanwaltschaft wiederum hält an der Opferversion fest. Sie bekommt Rückendeckung von dem Psychotraumatologen Günther Seidler. Er ist ihr Therapeut, aber damit womöglich voreingenommen, befürchten die Verteidiger. Seidler geht davon aus, dass seine Patientin traumatisiert ist und sich deshalb nicht mehr detailliert an das zentrale Tatgeschehen erinnern kann. Sein Schluss: May sagt die Wahrheit.

Stopp, nicht so schnell, kontern Kachelmanns Verteidiger. Sie haben die Aussagen von Silvia May schon im Frühjahr anhand der Akten durch drei Psychologen und Psychiater untersuchen lassen. Deren Einschätzung: Die Angaben seien "mindestens sehr zweifelhaft", schreibt der stern. Damit gab sich Kachelmanns Anwaltsteam aber nicht zufrieden. Anfang Juli beauftragten die Verteidiger Günther Köhnken. Der Kieler Aussageexperte, so die Anwälte jetzt, halte das Gutachten von Greuel für eindeutig in ihrem Sinne. Köhnken schreibe die "Bankrotterklärung der Aussage" Mays fest. Im Gerichtsaal sitzt Köhnken auf der Seite der "Verteidigerexperten" neben einem weiteren Psychologen, Tilman Elliger. Der Kölner Professor widerspricht nach Angaben Kachelmanns Anwälte ebenfalls der Traumatheorie von Seidler.

Diskussion um Verletzungen

Angesichts dieses Aufmarsches von Gutachtern, die Silvia Mays Aussage anzweifeln, gab das Gericht ein eigenes psychiatrisches Gutachten in Auftrag. Hans-Ludwig Kröber soll Mays Aussagetüchtigkeit prüfen, und analysieren, ob bei der Frau wirklich ein Trauma vorliegt. Kurz vor Verhandlungsbeginn gab der Berliner Psychiater seine Analyse ab. Noch ist nichts von diesem Gutachten bekannt, die Anklagebehörde will sich auf Anfrage von stern.de deshalb nicht äußern. Aber Kachelmanns Verteidiger lieferten ihre Interpretation: Auch Kröber erkläre die Traumatheorie für "Unsinn", seine Untersuchung bedeute ein erneutes "Desaster" für die Staatsanwaltschaft.

Deutungen über Deutungen. In der Psychologie ist dies nicht ungewöhnlich, diese Wissenschaft kann keine hundertprozentigen Ergebnisse liefern. Von der Rechtsmedizin wiederum würde man dies eher erwarten. Spur ist schließlich Spur, Verletzung ist Verletzung. Doch auch hier gibt es Interpretationsspielraum. Rainer Mattern, Chef der Heidelberger Rechtsmedizin, hat im Auftrag der Staatsanwaltschaft Silvia May kurz nach der angeblichen Tat untersucht. Er vertritt offensichtlich die Ansicht, die Verletzungen am Hals und an den Beinen könnte sich die Frau selber zugefügt haben, sie könnten aber auch Folgen einer Vergewaltigung sein.

Die Staatsanwaltschaft hat, auch mit Hinblick auf Mattern, Anklage erhoben - legt die Expertise also in ihrem Sinne aus. Wieder folgt eine Gutachter-Attacke der Gegenseite. Die Rechtsmediziner Bernd Brinkmann und Markus Rothschild seien zu dem eindeutigen Schluss gekommen, dass sich May selber verletzt habe, geben die Anwälte des Wettermoderators bekannt.

Gutachter auch für Kachelmann

In einem jedoch sind sich die Kontrahenten einig: "So viele Gutachter habe ich noch nie erlebt", sagte Kachelmanns erfahrene Verteidigerin Andrea Combe zu stern.de. Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge stimmt zu: "Das sind schon ungewöhnlich viele Gutachter." Zwei Gründe gibt es dafür: Da ist zum einen die Finanzkraft des Angeklagten. Kachelmann, der sich fünf Anwälte leistet, entlohnt Brinkmann und Co. aus eigener Tasche. "Man ist als Angeklagter sicher im Vorteil, wenn man selber Gutachter bezahlen kann", sagt der Berliner Strafrechtsprofessor Alexander Ignor. "Schließlich bekommt man solche Kosten selbst bei einem Freispruch in der Regel nicht vom Staat erstattet." Kachelmann versucht durch seine Experten, den Gang des Verfahrens zu seinen Gunsten zu beeinflussen und Zweifel zu sähen. "Je mehr Gutachter, desto komplizierter wird die Lage für die Richter", sagt Ignor. Der Richterbund (DRB) beschwichtigt. "Es ist die ureigenste Aufgabe eines Richters, sich aus widersprechenden Beweisen ein Bild zu machen", sagt DRB-Vizevorsitzende Andrea Titz. " Eine Verwirrung der Richter durch viele Gutachten muss man nicht befürchten."

Grundsätzlich gehört aber der Tatvorwurf an sich schon zu den schwierigsten Fällen, die ein Gericht entscheiden muss. Bei einer Vergewaltigung sind – wie in diesem Fall – in der Regel nur zwei Menschen anwesend, Zeugen gibt es nicht, Aussage steht oft gegen Aussage. "Bei Vergewaltigungen hat man es deshalb häufig mit mehreren Gutachtern zu tun", sagt der Strafrechtler Ignor. "Nicht nur, weil es Fortschritte bei der Analyse von Spuren gibt. Auch die Aussagepsychologie hat an Bedeutung gewonnen, weil die Sensibilität für mögliche Falschaussagen höher geworden ist."

Wer lügt, wer sagt die Wahrheit? Natürlich könnte auch Kachelmann die Unwahrheit gesagt haben. Doch er will sich nicht untersuchen lassen. Der Heidelberger Psychologe Hartmut Pleines soll für das Gericht den Wettermoderator nun anhand von dessen Verhalten im Gerichtssaal analysieren. Das Problem: Kachelmann will im Prozess kein Wort sagen. Trotzdem: Gutachten folgt.

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